Wer verstehen möchte, was es für Matthias Schindler bedeutet hat, als er sich die paralympische Bronze-Medaille auf dem Siegerpodest des Fuji Speedway in Japan um den Hals gehängt hat, der muss ein ganzes Stück in die Vergangenheit blicken. Mehr als 10 Jahre, um genau zu sein.
Nach einer fehlerhaft verlaufenen Tumor-Operation am Rückenmark saß der damals 28-Jährige Polizist von einem auf dem anderen Tag im Rollstuhl. Eine inkomplette Querschnittslähmung von der Hüfte abwärts stürzten Matthias Schindler in eine schwere Krise. Erst nach sechs Monaten in einer Fachklinik schaffte Matze erste Schritte mit Gehhilfen. Die Klinik verließ er ohne Rollstuhl.
Von diesem Tag an begann eine unbeschreibliche Reise, die in Tokio ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
Noch im gleichen Jahr kehrte Matze in Vollzeit in den Innendienst der Bayerischen Polizei zurück. Da er aber als nicht mehr uneingeschränkt polizeidiensttauglich eingestuft wurde, kann er im Polizeidienst nicht in den gehobenen Dienst aufsteigen. Alle Karrieremöglichkeiten waren damit mit einem Schlag verschwunden. Mehrere Ärzte empfahlen ihm Radsport zur Erhaltung seiner Fitness und Verbesserung seines Gesundheitszustandes. Da seine berufliche Zukunft ungewiss ist, setzte sich Matze fortan sportliche Ziele.
Mit Fleiß, Ehrgeiz und Willen folgte ein kometenhafter Aufstieg im Para-Radsport: Erst Ende 2012 nahm Matze Kontakt mit dem Bayerischen Behindertensportverband auf. Bereits 2013 fuhr er die ersten nationalen Rennen und gehörte er dem bayerischen Landeskader an. Ende 2013 hatte er zum ersten Mal Kontakt zum Bundestrainer, welcher ihn im Frühjahr 2014 mit zum Trainingslager der Nationalmannschaft nach Mallorca nahm. Im Sommer 2014 nominierte der Bundestrainer Matze für die Weltmeisterschaft in Greenville USA.
In den kommenden Jahren etablierte sich Matze in der Deutschen Paracycling-Nationalmannschaft. Und seine positive Entwicklung schien kein Ende zu nehmen: 2015 und 2016 gehörte er dem Talent Team Rio des BVS Bayern an, allerdings kamen die Paralympischen Spiele 2016 nach nur drei Jahren aktivem Radsport etwas zu früh. Kurz nach den Spielen kam ein erster Kontakt mit dem GOLDENEN RING zu Stande. Von der Bayerischen Polizei wurde er mittlerweile als Spitzensportler anerkannt und entsprechend gefördert.
2018 fuhr Matthias Schindler bei der Bahn WM in Rio de Janeiro neuen Deutschen Rekord in der 3000m Verfolgung, gewann den Gesamtweltcup auf der Straße und wurde Vizeweltmeister im Zeitfahren bei der Straßen WM in Maniago. Seit Oktober 2018 gehörte er zum A-Kader des DBS. Im Januar 2019 nahmen wir Matthias Schindler offiziell in die Förderung des GOLDENEN RING auf. Ende 2018 beendete er seine Bahnkarriere um sich auf die Zeitfahren auf der Straße zu fokussieren.
2019 gewann Matze im Zeitfahren beim Weltcup in Ostende und wurde erneut Vizeweltmeister im Zeitfahren, dieses Mal bei der WM in Emmen. Schon bei unserem ersten Treffen erzählte uns Matthias Schindler von seinem großen Traum, eine Medaille bei den Paralympischen Spielen in Tokio für Deutschland zu gewinnen
Am Dienstag, 31.08.2021 hat Matthias Schindler sich diesen Traum erfüllt. Auf einer für ein Zeitfahren extrem anspruchsvollen Strecke ging Matze vom ersten Meter des 24 Kilometer langen Verfolgungsrennens an seine körperliche und mentale Grenze. Und darüber hinaus…
Die beiden Briten Benjamin Watson und Fin Graham waren erbarmungslos an diesem Tag und auch Matzes Teamkollege Steffen Warias lieferte ein starkes Rennen. Matze investierte an der letzten Steigung des Fuji Speedway nochmal alles und sicherte sich am Ende mit hauchdünnen drei Sekunden Vorsprung vor Graham die Bronzemedaille hinter Watson und Warias. Die 24 Kilometer lange Wettkampfstrecke hatte Matthias Schindler in einer Zeit von 36:17,95 Minuten absolviert.
Eine fantastische Willensleistung, zu der wir Matze und seinem Team von ganzen Herzen gratulieren!
Beim paralympischen Straßenrennen drei Tage später konnte Matthias Schindler befreit an den Start gehen. Bei strömenden Regen machten Matze – der sich selbst zu den radtechnisch weniger versierten Fahrern zählt – gerade die Abfahrten zu schaffen. Die Spitzengruppe rund um die Briten Watson und Graham ballerte sie mit 70 Kilometern pro Stunde runter.
Matze musste den Kontakt zur Spitzengruppe bald reißen lassen, stabilisierte sich aber und fuhr das Rennen als „Einzelkämpfer“ zu Ende. Er überquerte die Ziellinie als 13. von 39 Startern.
Einen Tag nach dem Straßenrennen erlaubte das japanische Organisationskomitee dem Deutschen Radteam den Besuch des Olympischen Dorfes. Somit stand am letzten Tag vor dem Rückflug nach Deutschland heute olympisches Seightseeing auf dem Programm. Eine mehr als verdiente Abwechslung von den Strapazen der letzten Monate.
Wir hoffen sehr, dass Matthias Schindler seiner unfassbaren Geschichte noch einige sportliche Kapitel hinzufügt und dass wir ihn dabei unterstützen können.